Imre – Überleben im Schatten

Mein kleiner Bruder Imre erzählte mir in langen Gesprächen von der gefährlichen Zeit, die er verbracht hatte, nachdem er zur Rettung unserer Mutter aufgebrochen war. Ausgerüstet mit dem Ausweis des Hausmeister-Sohnes, verließ er morgens das Haus mit dem Ziel, die Gruppe zu finden, in der sich unsere verschleppte Mutter befand. Dazu ließ er sich von den ungarischen Soldaten gefangen nehmen. Sie brachten ihn zu einem der Juden-Transporte und trieben ihn in einer großen Gruppe von Budapest aus in Richtung Österreich. 

Während des Marsches versuchte er, immer weiter nach vorne in den Zug vorzudringen, wo er Mutter vermutete. Nachts wurden sie am Wegesrand in Scheunen untergebracht, unter den Schlafenden und Ruhenden suchte er weiter nach unserer Mutter, doch leider ohne Erfolg. 

Nach fünf Tagen erschöpfenden Fußmarsches kamen sie in die Nähe der österreichischen Grenze. Er wusste, dass sobald er die Grenze überschreiten würde, eine Rückkehr nach Budapest unmöglich würde. Während des langen Marsches hatte er seinen Freund Neiss Dajou getroffen und die beiden beschlossen, noch vor der Grenze gemeinsam zu fliehen. Nachdem sie sich eine Weile versteckt gehalten hatten, entfernten sie die verräterische gelbe Armbinde und begaben sich in ein Dorf, von dem aus sie einen Zug nach Budapest nahmen.

Nach Hause zurückzukehren war mittlerweile unmöglich geworden, glücklicherweise kam er mit seinen gefälschten Papieren bei Freunden unter, die ebenfalls mit gefälschten Papieren in einem Arbeiterviertel lebten – was für ein Zufall! 

Manche seiner Erlebnisse ließen mir noch im Nachhinein das Blut in den Adern gefrieren. Zum Beispiel die von dem Polizisten, der ihn ansprach: „Hey, du Jude, komm mit mir!“ Imre folgte ihm mit klopfendem Herzen einige Häuser weiter, wo der Polizist ihn in ein Treppenhaus stieß. Sein Gesicht war dicht über Imre, er spürte seinen Atem, als er ihm aufgeregt zuflüsterte: „Was bist du für ein Idiot, mit einer Nase wie deiner? Denkst du, dass man nicht entdeckt, dass du ein Jude bist? Kauf dir wenigstens einen Hut mit breitem Rand, der dein Gesicht verdeckt.“ Zu Imres Überraschung ließ der Polizist ihn frei. Vielleicht war auch er ein Flüchtender, verkleidet in einer gestohlenen Uniform ...

Imre folgte dem Rat des Mannes und kaufte sich einen Hut. Dann suchte er sich eine Arbeit als Laufbursche, und als die Not und der Hunger durch die andauernden Bombardements immer größer wurden, besorgte er Fleisch von einigen getöteten Pferden, die in dem kalten Winter gefroren zwischen den Trümmern lagen. Er schnitt Stücke aus dem gefrorenen Fleisch und versorgte damit sich und seine Freunde.

Als er Ende Dezember durch die Stadt lief, wurde er von einer Gruppe angetrunkener Pfeilkreuzler festgehalten: „Na du Kleiner, du siehst ja aus wie ein Jude!“ Imre holte schnell seinen Ausweis heraus und zeigte ihn mit zitternden Händen vor. „Wenn du kein Jude bist, dann komm mit uns an die Donau!“ 

Sie packten ihn am Kragen und zerrten ihn mit sich zum Ufer. „Na, dann zeig mal, dass du kein Jude bist! Wir schießen, und du wirfst sie in die Donau.“ 

Am Ufer standen die Menschen aus den Schutzhäusern aufgereiht, und bevor sie reagieren konnten, begannen die Pfeilkreuzler sie niederzuschießen. Einige fielen gleich in den Fluss, andere blieben verletzt liegen, stöhnten und schrien. Die Pfeilkreuzler wiesen Imre an, die Liegengebliebenen in den Fluss zu stoßen. Ein alter Mann hielt sich an seinem Kragen fest und sagte zu ihm „Du könntest mein Sohn sein!“ Tränenblind stieß er ihn in den Fluss, und im Chaos der schreienden Menschen gelang ihm die Flucht. Er war bis ins Mark entsetzt. Das Wasser der Donau färbte sich an diesem Tage rot. 

Imre war jetzt endgültig klar, was ihm drohte, sollte er auffliegen. Er besorgte sich eine Handgranate von einem betrunkenen Soldaten, um sich zu wehren oder im äußersten Notfall selbst in die Luft sprengen zu können, bevor er in die Hände der Pfeilkreuzler fiele.